Walter Ulbricht – Eine Biographie
Walter Ulbricht genießt in der BRD keinen guten Ruf: Er war, so heißt es, ein steifer und langweiliger Apparatschik mit viel Ideologie, aber ohne Profil. Spalter der Nation, Mauerbauer und Jahrhundertlügner war er, mit seinem Spitzbart und breiten Sächsisch eine Provinzfigur und kein Staatsmann. Dass das aber maximal die halbe Wahrheit ist, Ulbricht ein vielschichtiger, weitsichtiger, intelligenter und volksnaher Politiker war und an den meisten historischen Vorwürfen gegen ihn nichts dran ist, wird im biographisch angelegten Buch “Walter Ulbricht” deutlich. Herausgeber des Buches ist Egon Krenz; doch das Buch selbst ist nicht von ihm, sondern “nur” das Vorwort sowie einige Interviews. Insgesamt kommen auf stattlichen 608 Seiten 70 Zeitzeugen und Weggefährten Ulbrichts zu Wort.
Was Ulbrichts Arbeitsweise betrifft, so ergibt sich aus den Darstellungen all jener, die mit ihm gearbeitet haben, das Bild eines sehr pragmatischen und konstruktiven Mannes. Ulbricht hatte so gut wie nie eine starr gefasste Meinung (und wenn, hatte er sich vorher gründlich informiert), sondern hörte allen möglichen Leuten zu, interessierte sich für ihre Probleme und Lösungsansätze sowie ihre Argumentation. (Diese verlangte er allerdings auch; große Worte, um dünne Argumente zu übertünchen, waren ihm ein Graus.) Auf den Punkt brachte das Klaus Eichler in seinem Beitrag: “Er kritisierte nicht, er empfahl, er wies nicht an, sondern schlug vor.” Ein besonderes Interesse hatte Ulbricht an der Jugend, und zwar sowohl innerhalb der Bevölkerung als auch innerhalb der Partei. Er förderte einige junge Funktionäre – darunter auch Erich Honecker, was sich für Ulbricht später rächen sollte. Doch das ist ein anderes Thema.
Was das politische Wirken Ulbrichts vielleicht am besten charakterisiert, ist eine Mischung aus Prinzipienfestigkeit (von seinen Feinden als “Dogmatismus” verschrien) und Flexibilität. “Starrsinnig” war Ulbricht in Bezug auf die Grundprinzipien des Marxismus-Lenininsmus; flexibel war er in deren konkreter Umsetzung. Ulbrichts Prinzipienfestigkeit wird auch im lesenswerten Beitrag meines Lehrers und Freundes Kurt Gossweiler deutlich, in dem dargestellt wird, wie Ulbricht den sich ab etwa 1956 ausbreitenden Revisionismus, also die theoretische und praktische Aufweichung sozialistischer Grundsätze, von der DDR weitgehend fernhalten konnte. Seine Flexibilität im Konkreten verdeutlicht am besten der Abschnitt über das Neue Ökonomische System der Planung und Leitung (NÖSPL), mit dem es Ublricht gelang, die sozialistische Wirtschaft zu reformieren und zu modernisieren, ohne im Geringsten an ihren Grundfesten zu rütteln.
Bezüglich des im Buch mehrmals behandelten 17. Juni 1953 sei nur kurz erwähnt, dass die Teilnehmerzahl für einen “Volksaufstand” bemerkenswert niedrig war und dass es sich kein Staat der Welt gefallen ließe, wenn militante Horden randalierend durch die Straßen zögen. Oft erwähnt wird die Vorgeschichte: Wegen der Remilitarisierung der BRD musste die DDR den Gürtel ab 1952 enger schnallen, um Armee und Polizei aufbauen zu können. Anfang Juni 1953 hieß es dann aber plötzlich, die Sparmaßnahmen seien ein Fehler gewesen, und der Kurs wurde um 180 Grad gedreht. Da man aber ausgerechnet die Rücknahme einer die Arbeiterklasse stark belastende Maßnahme zu verkünden vergaß, wuchs der Unmut unter den Arbeitern. Den machten sich wiederum Provokateure und Unruhestifter zunutze. Das Besondere daran: Diese Politik wurde der DDR aus Moskau diktiert. Hintergrund waren Machtkämpfe nach dem Tod Josef Stalins im März 1953.
Zum Mauerbau wird darauf verwiesen, dass dieser die am wenigsten schlechte Lösung war, den Konflikt zwischen Ost und West in der Berlinfrage zu entschärfen und das sogenannte Grenzgängertum zu unterbinden (das waren Leute, die in der DDR lebten und in der BRD arbeiteten, was dazu führte, dass sie der DDR auf der Tasche lagen, während ihre Arbeitskraft dort fehlte). Thematisiert wird zudem Ulbrichts berühmt-berüchtigter Satz: “Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten.” Es ist jedoch kaum bekannt, dass Ulbricht nach jenem Satz fortfuhr: “Wir sind für vertragliche Beziehungen zwischen Westberlin und der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik.” Im Klartext bedeutete das: Wir wollen keine Mauer bauen, sondern diese Frage einvernehmlich lösen. Im Umkehrschluss bedeutete es aber auch: Wenn das nicht möglich ist, sind wir zu anderen Maßnahmen bereit. Von einer Lüge kann bei Licht betrachtet also keine Rede sein.
Aufgrund der Art und Weise, wie das Buch zusammengestellt ist, sind die jeweiligen Beiträge natürlich sehr unterschiedlich. Ein Höhepunkt ist für mich wie gesagt der Beitrag Gossweilers. Zu einem ähnlichen Thema schreibt auch Siegfried Prokop, wenngleich nicht in derselben Klarheit. Valentin Falin erzählt Interessantes aus der unmittelbaren Nachkriegszeit, Gerald Götting (einer der Mitbegründer der DDR-CDU) hat einige bemerkenswerte Anekdoten parat. Auch der Beitrag unseres ehemaligen Parteivorsitzenden Herbert Mies sowie Heinz Keßlers Rückblick auf die gemeinsame Kriegszeit in der Sowjetunion sind ausgesprochen lesenswert. Ebenso interessant ist das Interview mit Margot Honecker sowie der Beitrag von Erich Buchholz, der die sozialistische Demokratie in der DDR der bürgerlichen Scheindemokratie gegenüberstellt. Obwohl es sehr umfangreich ist, sind dem Buch viele Leser zu wünschen.
Walter Ulbricht
ISBN 9783360021601
ISBN-10 3360021606
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Ralph Petroff