Meinungsfreiheit 2024
Der Meinungskorridor, den die “freiheitliche demokratische Grundordnung” zulässt, wird immer schmaler. Ein Kongress zur Unterstützung Palästinas? Wird einfach von der Polizei gestürmt und aufgelöst, denn alles, was auch nur nach Kritik an Israels Politik riecht, ist tabu und natürlich sowieso antisemitisch. Demonstrationen von Islamisten, die zwar absolut hirnrissige Positionen vertreten, aber friedlich ein Grundrecht wahrnahmen? Werden sofort skandalisiert und zum Anlass für eine Verbotsdebatte gegen islamische Vereine genommen. Von der Kriminalisierung jeglicher Position, die auch nur ansatzweise Verständnis für Russland zeigt oder der Ukraine gegenüber kritisch ist, ganz zu schweigen.
Den Vogel abgeschossen hat nun aber der Berliner Senat, der anlässlich des Tages der Befreiung am 9. Mai das Zeigen jedweder Symbolik der Sowjetunion oder der Arbeiterbewegung an den sowjetischen Ehrenmalen untersagt hat. Und von der Polizei vor Ort wurde der Irrsinn auf die Spitze getrieben: Selbst das Verteilen von Ausgaben der marxistischen Tageszeitung junge Welt, auf deren Titelseiten das berühmte Foto gezeigt wurde, auf dem Rotarmisten die Sowjetflagge auf dem Reichstag hissen, sowie das Tragen von Fahnen kommunistischer Organisationen mit Hammer und Sichel wurden unterbunden. Dabei stellt sich schon auf den ersten Blick die Frage, was die Sowjetunion mit den aktuellen Krieg zu tun hat. Sowohl Russland als auch die Ukraine waren damals sowjetische Teilrepubliken, in der Roten Armee haben (nicht nur) Ukrainer und Russen Seite an Seite gekämpft. Die Symbolik und Musik der Sowjetunion und ihrer Armee repräsentieren also letztlich beide Staaten. Ganz abgesehen davon, dass es natürlich reichlich widersinnig ist, an sowjetischen Ehrenmalen sowjetische Symbolik zu verbieten.
Doch warum mit Logik aufhalten, wo es doch um die Interessen des imperialistischen Staates geht? Wurden früher noch ganze Bücher geschrieben, um die Totalitarismusdoktrin zu begründen, die Faschismus und Kommunismus gleichsetzt, macht man es sich heute ganz einfach: Der russische Präsident Wladimir Putin ist der neue Hitler, er hat eine sowjetische Vergangenheit und will die Sowjetunion gewaltsam wieder errichten – also ist die Sowjetunion (das Land, dessen Sieges über Hitlers Horden an jenem Tag gedacht wird!) quasi das Nazireich. Kurz gesagt, Russland ist die Sowjetunion, und die ist sowieso Nazideutschland. Ukrainischen Nationalisten, die sich offen zu Organisationen Nazideutschlands bekennen und ukrainische Kollaborateure feiern, sind Kommunismus und Sowjetunion ebenso verhasst wie dem politischen Establishment der Bundesrepublik – da fand zusammen, was zusammengehört. Und das führte dann zu der bizarren Situation, dass beim Gedenken an den Sieg der sowjetischen Armee über Hitler die Symbole ukrainischer Faschisten gezeigt werden durften, die damals mit den Nazis kooperiert hatten – während die Symbole der sowjetischen Befreier verboten waren. Man braucht einen stabilen Magen, um das zu ertragen.
Die Bundesrepublik müsse wieder kriegstüchtig werden, sagte Kriegsminister Boris Pistorius mit dankenswerter Offenheit – und dazu gehört natürlich auch eine stabile Heimatfront. Alles, was der Staatsräson und der politischen Linie der kapitalistischen Einheitspartei – Pardon, der politischen Vielfalt unseres freiheitlich demokratischen Sozialstaats – zuwiderläuft, wird zunehmend tabuisiert und kriminalisiert. Und es wird vermutlich nicht mehr lange dauern, bis der Straftatbestand der Wehrkraftzersetzung wieder eingeführt wird …
Ralph Petroff