Bürgerliche Enteignung

Bürgerliche Enteignung

 

Es hat sich in Berlin zugetragen – doch es passiert an allen Orten und ist so alt wie der Kapitalismus. Ein 84-jähriger Rentner wurde von einem Immobilienkonzern aus seinem Elternhaus geklagt, in dem er sein ganzes Leben lang wohnt.

Wie konnte es dazu kommen? Die Mietshäuser in der Siedlung in Reinickendorf wurden vor etwa 100 Jahren errichtet, die Eltern des aktuell betroffenen Manfred Moslehner gehörten zu den ersten Mietern. Doch 2010 wurde die Siedlung an die “Am Steinberg Entwicklungsgesellschaft mbH” verkauft. Die Häuser haben ziemlich große Gärten und sind damit natürlich Juwelen für Immobilieninvestoren. Was danach passiert ist, liegt auf der Hand: Der Konzern kündigte Modernisierungsmaßnahmen an – durch die der Wert der Immobilien gewaltig steigt, und damit natürlich auch die Mieten. Was eigentlich eine gute Sache wäre – die Sanierung alter Wohnungen –, wird somit für die Mieter zum Fluch, die sich die Miete in den luxussanierten Wohnungen nicht mehr leisten können. Eine nützliche Maßnahme wird so im Rahmen des kapitalistischen Profitprinzips zur Folter für die Betroffenen.

Das Besondere an der Siedlung in Reinickendorf ist, dass sie vor allem von Rentnern bewohnt ist – Moslehner ist nicht mal der älteste Bewohner. Dass diese “Entwicklungsgesellschaft” so rücksichtslos gegen alte Menschen vorgeht und nicht mal den Anstand hat, die biologische Entwicklung abzuwarten, mag ein Beispiel für besondere Geldgier sein – letzten Endes ist es aber systembedingt: Die kapitalistische Konkurrenz sowie der Zwang zu Profit und Wachstum lassen keinen Spielraum für Menschlichkeit. An diesem Beispiel wird einmal mehr anschaulich, worum es im kapitalistischen System tatsächlich geht und wer bzw. was im Mittelpunkt steht. Ich verrate gewiss nicht zu viel, wenn ich sage: Der Mensch und seine Bedürfnisse sind es nicht …

Noch in einem weiteren Punkt ist diese Geschichte aber vielsagend: Am 15. April erging vor dem Amtsgericht Wedding das letztinstanzliche Urteil. Weil Moslehner sich weigert, die Modernisierung zuzulassen, wird nicht nur die Kündigung des Mietvertrages bestätigt – er wurde auch zur Räumung des Hauses binnen drei Monaten verurteilt. Der Vorwurf geht dabei gar nicht unbedingt an die Richterin – sie kann nur im Rahmen der Gesetze urteilen, die der Staat ihr vorsetzt. Aber gerade daran wird wieder mal deutlich: Der Staat ist kein “neutraler Schiedsrichter”, sondern ein Klassenstaat. Er ist ein Werkzeug der herrschenden Klasse – und das sind in unserem Fall die Kapitalisten. Und dadurch erklärt sich auch, dass in diesem Land die Profitinteressen von Immobilienkonzernen und -spekulanten mehr zählen als die Bedürfnisse der Menschen nach bezahlbarem Wohnraum.

Wobei, womöglich sind diese Zeilen ein bisschen zu hart – es ist ja nicht so, dass Staat und Justiz die Interessen der Werktätigen völlig gleichgültig wären. Für die schlappe Summe von 4.279 Euro darf er in seinem Häuschen bleiben – zumindest, bis der Fall durch alle Instanzen gegangen ist. Hinzu kommen noch die Prozesskosten, die Moslehner zu tragen hat. Das ist doch ein großzügiges Angebot, oder? Und wenn er das Geld nicht hat, ist der arme Schlucker eben selbst schuld …

Ralph Petroff