Putins Interview mit Tucker Carlson
Der US-Journalist Tucker Carlson hat den russischen Präsidenten Wladimir Putin interviewt. Allein das ist Grund genug für den westlichen Mainstream, Carlson anzuklagen und ihm bittere Vorwürfe zu machen. Dabei gibt es durchaus Gründe, Carlson kritisch zu sehen – er verteidigt den rassistischen Mörder Kyle Rittenhouse, fabuliert vom “Großen Austausch”, leugnet den Klimawandel kategorisch und hält den Sturm auf das Kapitol für eine FBI-Aktion. Das ist aber gar nicht das Problem der westlichen Medien mit ihm, sondern dass er es wagt, die “aktive Außenpolitik” der USA (wie der US-Imperialismus verharmlosend bezeichnet wird) abzulehnen und einem Paria eine Bühne zu bieten. Nicht der Irrsinn, den Carlson vertritt, wird kritisiert, sondern seine einzigen vernünftigen Standpunkte.
Doch was wird in dem Interview eigentlich gesagt? Zunächst referiert Putin über eine halbe Stunde über die Geschichte Russlands. Dabei holt er weit aus, beginnt 862 mit der Gründung Russlands und arbeitet sich bis ins 21. Jahrhundert vor. Letztlich will er mit alledem sagen, dass die Ukraine schon immer integrales Element der Russischen Föderation und Ukrainer quasi Russen seien. Dazu passt auch, dass er den Krieg zwischen Russland und der Ukraine als “Bürgerkrieg” bezeichnet, in dem “ein Teil des russischen Volkes gegen den anderen gehetzt wird”. Diesen Aspekt finde ich wenig überzeugend, denn was bedeutet all das für heute? Seit der Zerstörung der Sowjetunion 1991 ist die Ukraine nun mal ein unabhängiger Staat, und es hat immer einen revanchistischen Beigeschmack, wenn aus der Geschichte territoriale Ansprüche abgeleitet werden.
Das problematischste Element ist Putins Darstellung der sowjetischen Nationalitätenpolitik: Revolutionsführer Wladimir Iljitsch Lenin habe den Teilnationen Russlands “aus unerfindlichen Gründen” das Recht auf Selbstbestimmung bis hin zur Lostrennung zugesichert, was das Land destabilisiert und schließlich zum Verlust russischen Territoriums geführt habe. Sein Nachfolger Josef Stalin habe darauf bestanden (hier liegt Putin richtig), dass die ukrainische Kultur gefördert werde. In Wahrheit war die Nationalitätenpolitik Lenins und Stalins die einzige Möglichkeit, das Land zusammenzuhalten, denn unter dem Zaren wurden nationale Minderheiten unterdrückt und assimiliert. Autonomie, das Recht auf Lostrennung und die Förderung der nationalen Kultur waren die einzige Möglichkeit, die Unterdrückung zu beseitigen und territoriale Integrität des Staates zugleich zu erhalten. Etwas merkwürdig mutet an, dass Putin vom “sogenannten Stalin-Regime” spricht, von dem “viele behaupten, es habe mehrere Fälle von Menschenrechtsverletzungen gegeben”. Bisher hat gerade auch Putin selbst zu jenen gehört, die die Geschichte so betrachtet und erzählt haben.
Interessanter wird das Gespräch, wenn es in die Gegenwart geht. Putin kritisiert zu Recht, dass die NATO sich ausgedehnt habe – es sei dieselbe Situation wie im Kalten Krieg, nur diesmal näher an den russischen Grenzen. Als die NATO sich jedoch der Ukraine zugewandt und dort ein nationalistisches, antirussisches Regime installiert habe, habe dies das Fass zum Überlaufen gebracht. Nach dem Maidan-Putsch 2014 seien alle Gegner des neuen Regimes verfolgt oder im Fall des Donbass mit Krieg überzogen worden; hierin liege die Wurzel des heutigen Krieges. Dieser sei vor allem ausgebrochen, weil die ukrainische Führung erklärt habe, sich nicht mehr an die Minsker Abkommen gebunden zu fühlen, die Frieden im Donbass und dessen Verbleib in der Ukraine bei weitgehender Autonomie vorgesehen hatten. Und Putin verleiht seiner Überzeugung Ausdruck, dass es früher oder später zu einer Verhandlungslösung kommen werde; Russland sei zum Dialog bereit. Was die Sprengung von Nord Stream betrifft, verweist er auf zwei wichtige Punkte: Die Frage sei, wer einen Vorteil davon hatte, aber auch, wer die Möglichkeit dazu hatte. Nimmt man beides zusammen, blieben nur die USA übrig. Putin wie auch Carlson äußern ihr Unverständnis, dass die Bundesregierung so handzahm reagierte; der russische Präsident erklärt, in der Bundesrepublik regieren ausgesprochen “inkompetente Leute” – und dem lässt sich schwerlich widersprechen.
So muss man feststellen, dass dieses Interview Licht und Schatten enthält: Putin sagt viel Wahres, was die westliche Politik betrifft, auch kritisiert er die Politik seines marktradikalen, antikommunistischen und prowestlichen Vorgängers Boris Jelzin scharf. Und in gewissen Momenten lässt er einige Sympathie für die Sowjetunion durchblicken. Andererseits versteht er offensichtlich immer noch nicht, warum es zur Nationalitätenpolitik Lenins und Stalins keine Alternative gab, und seine historischen Ausflüge sind nicht nur wenig hilfreich, sondern als politisches Argument auch nicht ungefährlich.
Ralph Petroff