Schröder im Postfach

Schröder im Postfach

 

Als ich mich neulich in mein E-Mail-Postfach einloggen wollte, staunte ich nicht schlecht: Eine “Analyse” zu Gerhard Schröders 80. Geburtstag kündigt GMX an, die Überschrift lautet: “Ein politisches Lebenswerk in Trümmern”.

Zur Erinnerung: Schröder war derjenige Bundeskanzler, der die BRD in den ersten Krieg – pardon, “humanitäre Intervention” – seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dirigierte. Später sollte er selbst zugeben, dass dies ein eklatanter Bruch des Völkerrechts war. Teil von Schröders “politischem Lebenswerk” ist es, dass der (im Westen ohnehin nie konsequent eingehaltene) Ansatz, von deutschem Boden solle nie wieder Krieg ausgehen, kurzerhand entsorgt wurde – mit Folgen bis heute. Hier, nicht erst 2022, findet sich die vom heutigen Kanzler Olaf Scholz lauthals verkündete “Zeitenwende”, mit der der Krieg nach Europa zurückgebracht wurde und Grenzen gewaltsam verschoben wurden.

Ein weiteres Element von Schröders “politischem Lebenswerk” war es, mit Hartz IV und Agenda 2010 Armut per Gesetz einzuführen. Mit diesem beispiellosen Sozialkahlschlag wurden Arbeitslose quasi zu Leibeigenen des Jobcenters gemacht und waren gezwungen, jeden noch so miesen und schlecht bezahlten Job anzunehmen, wollten sie dieses Schicksal vermeiden. Auch auf die Beschäftigten wurde auf diese Weise Druck gemacht – das Ergebnis war dann “einer der besten Niedriglohnsektoren, die es in Europa gibt”, wie Schröder stolz verkündete. Im Rahmen der Agenda 2010 wurden dem Kapital massive Geschenke gemacht, für die natürlich die arbeitende Bevölkerung aufkommen musste.

Es gibt also gute Gründe, Schröder kritisch zu sehen und sein “politisches Lebenswerk” für verheerend zu halten. Doch natürlich sind es nicht die genannten Punkte, für die der Altkanzler an den Pranger gestellt wird – im Gegenteil, aus Sicht der Bourgeoisie sind das Leistungen, ja geradezu “Heldentaten”! So heißt es denn auch bei GMX, Schröder “hätte vieles mitgebracht, um als großer Kanzler in die Geschichte einzugehen”. Neben ein paar Belanglosigkeiten wird dann explizit geschrieben: “Vor allem in Erinnerung bleiben aber sein Nein zum Irak-Krieg 2002 und die Agenda 2010 – jenes umfassende Reformprogramm, mit dem Schröder den deutschen Arbeitsmarkt umkrempelte.” Der Überfall auf Jugoslawien wird hier erst gar nicht erwähnt.

Doch wo liegt dann das Problem mit Schröder? Warum ist er kein “großer Kanzler”, obwohl er dem Kapital gedient hat wie kaum ein anderer? Nun, der Altkanzler hat zugleich die Sünde begangen, mit Wladimir Putin befreundet zu sein – und an dieser Freundschaft auch festzuhalten. Schröder stimmt nicht in die hysterische antirussische Stimmungsmache ein, sondern sucht nach diplomatischen Lösungen für den aktuellen Konflikt und äußert bisweilen sogar Verständnis für die russische Seite. Damit ist er natürlich zum Aussätzigen geworden, und alle früheren “Verdienste” sind vergessen – das “politische Lebenswerk” liegt eben in Trümmern. Aus dieser Perspektive ergibt die Überschrift des GMX-Artikels erst richtig Sinn.

Wie mit Schröder umgegangen wird, ist ein bisschen, als würden einem grausamen Serienmörder nicht seine Verbrechen vorgeworfen, sondern dass er ein Opfer davonkommen ließ. Daran lässt sich aber auch wunderbar ablesen, in welchem Zustand sich die Bundesrepublik befindet: Krieg? Jederzeit gerne! Sozialabbau? Aber immer doch! Doch Diplomatie und Frieden? Wie kann er es wagen?

Ralph Petroff