Orbán und die EU
Seit Kurzem heißt der neueste Buhmann in der Europäischen Union Viktor
Orbán. Warum? Weil er fremdenfeindlich ist? Antikommunistisch? Neoliberal?
Weil er Hitlers ungarischen Verbündeten Miklos Horthy würdigt? Ach was! Das
wären doch eher Gründe, ihn auszuzeichnen. Mit der viel zitierten autoritären
Herrschaft hat man in Berlin, Paris, Brüssel und anderswo auch nur dann
Probleme, wenn sie dem neoliberalen, militaristischen und undemokratischen
Kurs der EU widerspricht.
Doch genau in Sachen Militarismus macht sich Orbán der Feigheit vor dem
Feind schuldig: Dieser Mann besitzt doch allen Ernstes die Frechheit, reden
statt schießen zu wollen! Orbán war in Kiew und dann in Moskau, um sich mit
führenden Politikern zu beraten; auch nach Peking führte ihn sein Weg.
Immerhin, er war auch und zuerst in der Ukraine. Doch damit nicht genug: In
einem Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU wagt es Orbán doch
allen Ernstes, die Sichtweise vorzustellen, die ihm Wladimir Putin zuvor
dargelegt hatte!
Früher war keineswegs alles besser – im Gegenteil, der Kapitalismus war schon
immer gleich. Aber zumindest hatte das führende politische Personal vor der
Konterrevolution noch die Vernunft zu erkennen, dass Diplomatie nur dann
funktioniert, wenn man auch mit dem Gegner redet. Eine Farce wie ein
“Ukraine-Friedensgipfel” ohne Beteiligung Russlands wäre früher kaum denkbar
gewesen. Allein mit Freunden kriege ich keine Einigung zustande, wir sind uns
ja schon einig. Verhandeln kann man nur mit dem, der auf der anderen Seite
der Barrikade steht. Genau das hat Orbán versucht.
Dass ihm das nun zum Vorwurf gemacht wird (und nicht seine wahren
Untaten), zeigt, auf welchem Kurs die EU ist: Ein neoliberaler Umbau der
Gesellschaft? Prima, das wird ja im EU-Vertragswerk sogar gefordert. Rigide
Flüchtlingsabwehr? Da sind sich alle einig, von den Rechtsradikalen bis hin zu
den biederen bürgerlichen Regierungen, die immer wieder oberflächlich “gegen
rechts” agitieren. Dass das mit rassistischer Hetze verbunden ist? Vielleicht
nicht die feine englische Art, aber im Grunde hat er ja Recht. Aber verhandeln,
statt zu schießen? Unerhört! Wie sollten wir denn sonst unsere
Aufrüstungsprogramme, die Militarisierung der Gesellschaft und den
verschärften Konfrontationskurs mit den “Bösen” begründen?
Ralph Petroff