Kosovo, Ukraine – und die fatalen Folgen der NATO-Osterweiterung

Kosovo, Ukraine – und die fatalen Folgen der NATO-Osterweiterung

 

Am 9. Dezember fand in der Sportgaststätte des TV Oberndorf der Vortrag “Kosovo, Ukraine – und die fatalen Folgen der NATO-Osterweiterung” des Politologen Michael Kraus statt. Der große Saal war ziemlich voll, und doch hätte man diesem großartigen Vortrag noch mehr Zuhörer gewünscht. Die Tragik dabei ist natürlich, dass diejenigen, die derlei eigentlich hören müssten, solche Veranstaltungen nicht besuchen. Diejenigen, die da waren, haben den Vortrag jedenfalls genossen, und die folgende Diskussion zog sich lange hin.

Einleitend stellte Kraus fest, dass ihm in allen Konflikten, mit denen er sich näher beschäftigt hat – sei es nun Kosovo, Syrien, Ukraine, China oder das Streitthema Menschenrechte –, stets dasselbe Muster begegnet ist: (kriegerische) westliche Expansion. Interessant ist übrigens, dass viele der Neokonservativen, die diese Haltung vertreten, nach rechts gerückte Trotzkisten sind. Der gemeinsame Nenner ist die “Zwangsbeglückung” der Welt: Wollte man früher die Weltrevolution mit Feuer und Schwert in die Welt tragen, so sind es nun eben “Demokratie und Menschenrechte”. Seit George W. Bush dominieren diese Neocons übrigens quasi jede US-Regierung dieses Jahrhunderts. Im Anschluss stellte er verschiedene Erklärungsmuster vor. Die “liberalen Interventionisten” wollten Freiheit und Demokratie in die Welt tragen – dies sei aber imperialistisch und keineswegs liberal. Eine völlig andere Denkschule stelle der Neorealismus dar – als Beispiel dafür zitierte er Egon Bahr: “In der internationalen Politik geht es nie um Demokratie oder Menschenrechte. Es geht um die Interessen von Staaten.”

Laut dem Neorealismus sind die internationalen Beziehungen von Sicherheitsinteressen der Staaten geprägt. Staaten handeln demnach rational und logisch, und zwar unabhängig von der Staatsform. Die mächtigen Staaten können sich durchsetzen, kleinere hingegen müssen sich den mächtigen fügen, aufrüsten (was ihnen jedoch kaum möglich ist) – oder aber Bündnisse eingehen, entweder mit den mächtigen Staaten (wie EU/NATO) oder aber untereinander (wie die BRICS). Militärische Bündnisse gehen indes in aller Regel auf Kosten von Wohlstand (aufgrund der militärischen Kosten) und Souveränität (aufgrund der damit einhergehenden Verpflichtungen). Dabei ist eine bipolare Welt (wie zu Zeiten des Kalten Krieges) am sichersten, eine unipolare hingegen am kriegerischsten: Der eine Hegemon will die restliche Welt nach seinen Vorstellungen formen, diese hingegen widersetzt sich dem (wenigstens teilweise).

Demnach ist es auch keine Überraschung, dass zahlreiche Neorealisten die NATO-Osterweiterung kritisch gesehen haben (überraschend ist hingegen, dass selbst der neoliberale und dem Westen hörige russische Präsident Boris Jelzin 1994 energisch gegen diese protestierte): Diese werde definitiv zu Gegenreaktionen führen. Bereits 2008 warnte der damalige US-Botschafter in Moskau und spätere CIA-Direktor William Burns davor, ein NATO-Beitritt der Ukraine werde für Russland ein Kriegsgrund sein. Auch der Neorealist John Mearsheimer sieht die Osterweiterung als Grund für den Ukraine-Krieg. Die NATO will, so Kraus, Russland einkreisen und vor allem ein deutsch-russisches Bündnis verhindern. Mit einer Ukraine in den Grenzen von 1991 in der NATO wäre Russland auf See abgeschnitten; dementsprechend sollte mit der Eingliederung der Krim verhindert werden, dass der Vertrag über die Stationierung der russischen Schwarzmeerflotte gekündigt und das Schwarze Meer zum NATO-Meer wurde. Bemerkenswert ist hierbei, dass die USA selbst beispielsweise in der Monroe-Doktrin den gesamten amerikanischen Kontinent zu ihrer Einflusssphäre erklärt haben und kein Eindringen fremder Mächte dulden (als Beispiel sei die Kuba-Krise von 1962 genannt) – sich aber dennoch wundern, wenn etwa Russland ein solches Eindringen ebenfalls nicht duldet. Der Sechstagekrieg Israels 1967 werde umstandslos als Präventivkrieg anerkannt – im Falle Russlands sei hingegen stets von einem “unprovozierten Angriffskrieg” die Rede.

Im Folgenden zog Kraus Parallelen zum Kosovokrieg 1999: In diesem Fall gab es eine einseitige Unabhängigkeitserklärung der terroristischen kosovo-albanischen UÇK – übrigens ohne Volksabstimmung –, die von der NATO herbeigebombt wurde, und zwar gegen jegliche Verträge und Resolutionen. Der angebliche “Völkermord”, der den Kosovo-Albanern gedroht habe, sei lediglich ein Vorwand gewesen, so Kraus; im Gegenteil kam es zu Massakern und Massenvertreibungen erst nach dem NATO-Angriff, und die Opfer waren Serben und Roma. Es wurde von allen Seiten ein erbitterter und grausamer Bürgerkrieg geführt, aber zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kam es erst nach dem Angriff. Dies hätten auch die OSZE und der Brigadegeneral der Bundeswehr Heinz Loquai bestätigt. Doch so groß die Parallelen zur Ukraine auch sind – Separatismus, dessen Anerkennung (mal durch die NATO, mal durch Russland), ein Bürgerkrieg und schließlich ein Einmarsch –, ist die Bewertung dieser Ereignisse völlig unterschiedlich.

Danach widmete sich Kraus der Frage, warum das so ist, und sprach dabei auch über die Rolle der Medien. Er zitierte aus einem Leserbrief des Mitbegründers der FAZ Paul Sethe, in dem dieser bereits 1965 geschrieben hatte: “Pressefreiheit ist die Freiheit von zweihundert reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten. Frei ist, wer reich ist.” Es wird einseitig informiert, und die Berichterstattung folgt einem simplen Gut-Böse-Schema – im Interesse des Hegemonen. Die Wahrheit kann man ja nicht sagen – das einfache Volk ist im Krieg immer Verlierer und hat deshalb kein Interesse am Krieg. Also muss die Propaganda nachhelfen. Kraus stellte als Beispiel die Thesen Walter Lippmanns vor, der eine “gelenkte Demokratie” anstrebte und über die Medien eine “Einheitsmeinung herstellen” wollte. (An dieser Stelle sei auf unsere Rezension des Buches “Medien. Macht. Meinung” von Renate Dillmann verwiesen.) Im Folgenden stellte er die zehn Prinzipien der Kriegspropaganda vor, die Anne Morelli formuliert hatte – “1. Wir wollen keinen Krieg! 2. Der Gegner ist allein für den Krieg verantwortlich. 3. Der Führer des feindlichen Lagers wird dämonisiert. 4. Wir verteidigen ein edles Ziel und keine besonderen Interessen. 5. Der Feind begeht wissentlich Grausamkeiten, wenn wir Fehler machen, geschieht dies unbeabsichtigt. 6. Der Feind benutzt unerlaubte Waffen. 7. Wir erleiden geringe Verluste, die Verluste des Feindes sind erheblich. 8. Anerkannte Kulturträger und Wissenschaftler unterstützen unser Anliegen. 9. Unser Anliegen hat etwas Heiliges. 10. Wer unsere Propaganda in Zweifel zieht, arbeitet für den Feind und ist damit ein Verräter” –, und glich diese mit den Fallbeispielen Kosovo und Ukraine ab.

Zum Schluss stellte Kraus Alternativen zum aggressiven westlichen Hegemonismus vor. Im Grunde liefen alle Modelle auf Gleichberechtigung, Nichteinmischung, Multipolarität, eine Stärkung der Rolle der UNO, Zusammenarbeit zugunsten aller, eine Abschaffung aller Militärstützpunkte im Ausland sowie sämtlicher Atomwaffen und allgemeine Abrüstung hinaus. Doch so schön sich all diese Ansätze anhören – so wenig, wie sich Wölfe zu Vegetariern erziehen lassen, lassen sich die Imperialisten zu gleichberechtigter Zusammenarbeit bekehren. Daher werden all diese Ansätze nichts als nette Träumereien bleiben, solange der Imperialismus existiert.

Ralph Petroff / D. S.