Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990

Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990

 

Ich habe lange gezögert, ob und wie ich das Buch “Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990” von Katja Hoyer rezensieren soll. Dabei habe ich es geradezu verschlungen und wertvolle neue Erkenntnisse gewonnen. Das hat mich trotz aller Zweifel (zu den Ursachen dafür später mehr) dazu bewogen, doch darüber zu schreiben.

Das Wichtigste an diesem Buch ist, dass Hoyer die positiven Seiten der DDR ausführlich darstellt: die umfassenden Sozialleistungen, die Investitionen in Bildung, Gesundheit und Wohnungsbau, die staatlich garantierten Niedrigpreise, das Recht auf Arbeit, die stetig steigenden Gehälter, das gute Verhältnis von Arbeit und Freizeit, die Rechte der Frau, die Förderung des Sports, den Internationalismus und die Unterstützung der Dritten Welt. Sie schildert ein Land, in dem es ein Maximum an sozialer Sicherheit und Stabilität sowie einen stetig besseren Lebensstandard gab. Denen, die das (wie ich) nie erlebt haben, muss das wie die Phantasie eines utopischen Autors erscheinen. Sie schildert überzeugend, dass das Einverständnis der Bevölkerung mit der DDR und dem Sozialismus recht hoch war und selbst 1989 kaum jemand deren Abschaffung angestrebt hat. Es wird deutlich, dass die Politik der SED trotz aller Defizite darauf ausgerichtet war, den Lebensstandard der Menschen zu erhöhen und ihre Lebensqualität zu verbessern – und zwar ihre gesamte Existenz über, obwohl das eine kostspielige Angelegenheit war. Die in der Volkswirtschaft gemachten Gewinne flossen nicht wie hier in die Taschen einiger Superreicher, sondern wurden vom Staat zum Wohle der Menschen verwendet – die DDR war eben ein sozialistischer Staat.

Natürlich verschweigt Hoyer auch die erwähnten Defizite nicht. Das Besondere ist aber, dass sie die Ursachen erläutert: Das Grundproblem der DDR war, dass sie ein kleines und sehr rohstoffarmes Land war, was die Produktion massiv erschwerte. Solange die Sowjetunion günstig Öl lieferte, ließ sich das weitgehend kaschieren; als diese jedoch den Hahn zudrehen musste, wirkte sich das sehr negativ auf die DDR aus. Gewisse umweltpolitische Defizite (der einzige reichlich vorhandene Rohstoff war Kohle, die jedoch viel schmutziger und ineffizienter ist als Öl), die Knappheit gewisser Güter (es war nicht genug Geld für den Import teurer Rohstoffe und der entsprechenden Waren da), der Verfall von Altbauten (der Schwerpunkt musste auf den Bau neuer Wohnungen gelegt werden), die langen Wartezeiten bei Autos (weil immer wieder Rohstoffe knapp wurden) – das alles hing direkt mit der Rohstoffknappheit zusammen. Verschärft wurde das durch die Politik Erich Honeckers, der viel Geld in die Hand nahm, um westliche Luxusartikel zu importieren. Nicht nur verschlang das Summen, die sinnvoller hätten investiert werden können – es schürte auch unrealistische Erwartungen. Als der Gürtel dann enger geschnallt werden musste, war das nicht mehr möglich – und der Unmut nahm zu. Und die bisweilen etwas zu repressive Politik erklärt sie mit den Erfahrungen der Protagonisten: Wer als Kommunist im Kaiserreich, der Weimarer Republik und erst recht unter den Nazis nur Verfolgung erlebt hatte, der war wohl deutlich vorsichtiger und sah vielleicht auch mal Feinde, wo keine waren.

Dennoch hat das Buch zwei große Schwächen: Es ist trotz allem Positiven deutlich bürgerlich geprägt, immer wieder ist von “Regime” und “Paranoia” die Rede. Gleich zu Beginn des Buches schreibt Hoyer über die Säuberungen in der Sowjetunion unter Stalin, erläutert die Hintergründe und stellt sie in einen historischen Kontext – um sie ein paar Seiten weiter auf die “Paranoia” eines “Diktators” zurückzuführen. Sehr ähnlich ist es mit dem Mauerbau: Seitenlang werden die Hintergründe dieser Maßnahme und die positiven Auswirkungen dargestellt, nur um am Ende in die abgedroschene Kerbe zu schlagen, die DDR habe ihre Bürger einsperren wollen. Es wirkt beinahe, als habe Hoyer derlei Stellen aus Angst eingebaut, zu positiv über die DDR zu schreiben und entsprechend verrissen zu werden. Bisweilen widerspricht sie sich auch inhaltlich: In der Endphase der Herrschaft Walter Ulbrichts schildert sie, wie dieser die Gesellschaftspolitik liberalisierte und Beatmusik sowie lange Haare bei Männern duldete, während Honecker der konservative Spießer war, der dies verhindern wollte. Als sie dann aber über die Frühphase Honeckers schreibt, hört sich das ganz anders an – da war Honecker plötzlich der Liberalisierer, der den konservativen Muff der Ulbricht-Ära beseitigte. Auf Seite 278 wird Günter Mittag als Konservativer bezeichnet, der gegen Ulbrichts Wirtschaftsreformen gewesen sei. Auf Seite 428 hingegen heißt es dann auf einmal, Mittag habe die Wirtschaftsreformen unterstützt. Bisweilen fehlt also die logische Stringenz.

Aufgrund der beschriebenen politischen Defizite ist das Buch mit Vorsicht zu genießen – die Autorin denkt eben doch bürgerlich. Andererseits liegt darin ein Stück weit auch die Stärke des Buches: Man wird Hoyer nicht vorwerfen können, sie mache “kommunistische Propaganda”, wenn sie so weitgehend positiv über die DDR spricht. Und darin, dass sie das so faktenreich und gut begründet, liegt letzten Endes der Wert ihres Werkes.

 

Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949-1990

ISBN-10 3455015689

ISBN-13 978-3455015683

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Ralph Petroff